Zum Bergsteigen reichen Helmut Kaulfuß Kräfte nicht mehr, doch das politische Geschehen verfolgt der morgen 90-Jährige noch aufmerksam.
Zwei Diktaturen erlebte der pensionierte Lehrer - erst das Dritte Reich, danach die DDR. GB-Foto: Holom
Am 8. Dezember 1934 wurde Helmut Kaulfuß in Chemnitz geboren, vier Kilometer von der Stadt entfernt wuchs er auf dem Dorf auf, wo er auch die Volksschule be¬suchte. Der Hauswirt, bei dem die Familie Kaulfuß zur Miete wohnte, war im Widerstand gegen die Nationalsozialisten organisiert, mit dem Fahrrad holte dieser Flugblätter in Tschechien ab. Jeden Abend verschloss er die Fensterläden mitsamt der Wohnungstüre und schaltete den Londoner Rundfunk ein, mit dabei war auch immer der junge Helmut Kaulfuß. „Wenn Du etwas davon sagst, dann bin ich ein toter Mann“, nahm der Hauswirt den damals Zehnjährigen in die Pflicht. „Ich habe nichts gesagt, er war wie ein Ersatzvater für mich“ erinnerte sich Kaulfuß, dessen eigener Vater im Kriegsdienst war.
Spätere Ehefrau Helga bereits in der Schule kennengelernt
Die örtliche Volksschule wurde 1944 zum Lazarett umfunktioniert, weshalb sich der Unterricht auf zwei Stunden pro Tag reduzierte und in eine Baracke am Sportplatz verlagerte. An einen Schultag erinnert sich der Jubilar auch 80 Jahre später noch ganz genau: Helmut Kaulfuß hatte gerade den Tafeldienst gemeinsam mit einem Freund beendet, sie traten aus der Baracke heraus, die circa 100 Meter vom nächsten Haus entfernt im freien Gelände stand. „In dem Moment sind die Tiefflieger gekommen und haben angefangen zu schießen. Wir sind um unser Leben gerannt und haben Glück gehabt“, schildert der 90-Jährige.
„Möchtest Du lieber alleine sitzen oder neben dem Mädchen sitzen?“, wurde der damals 16 Jahre junge Helmut von seinem Lehrer vor die Wahl gestellt, als er gegen Ende der zehnten Klasse im sächsischen Mittweida als neuer Mitschüler in die Klasse kam – er entschied sich für den Platz neben dem Mädchen. „Sie ist später meine Frau geworden. Seitdem haben wir wie ein Ehepaar gelebt, bis zu ihrem Tod“, blickt Kaulfuß lächelnd zurück.
Mit ihr gemeinsam studierte Helmut Kaulfuß in Potsdam Geografie und besuchte regelmäßig ihre Verwandtschaft in Westberlin. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass die Staatssicherheit ihn dabei beschatten ließ, bis sie ihn im September 1955 einbestellte. Detailliert dokumentiert wurde Helmut Kaulfuß mit seinen Aufenthalten in Westberlin konfrontiert, er ahnte, dass der Rausschmiss aus der Universität kurz bevorstand.
„An deiner Stelle wäre ich weg, mehr sage ich nicht“, riet ihm eine Freundin, die selbst SED-Mitglied war, unter der Hand. „Am nächsten Tag war ich weg“, fasst Kaulfuß seinen Entschluss zusammen.
Ohne persönliche Habseligkeiten, lediglich mit seiner Aktentasche in der Hand und seinem Stipendium von 120 Ostmark ausgestattet, passierte Helmut Kaulfuß am Bahnhof Griebnitzsee die Kontrolle der Volkspolizei. Nach ein paar Hundert Metern erreichte der Zug Westberlin. „Hier habe ich mein Stipendium von 120 Ostmark im Verhältnis 1:5 umgetauscht, dann hatte ich 24 Mark, und das war mein Start in die freie Welt.“
Im Aufnahmelager Sandbostel in Bremen suchten sich Vertreter aus allen Bundesländern mit einer Liste die von ihnen benötigten Fachkräfte zusammen. Als Flüchtling mit abgebrochenem Studium rechnete Kaulfuß sich keine Chancen aus.
„Das ist ein netter Kerl, kannst Du ihn nicht mitnehmen?“, redete man letztlich dem Vertreter aus Württemberg gut zu, nachdem alle Fachkräfte bereits mitgenommen worden waren. Dieser willigte etwas widerwillig dann doch noch ein.
Während Helmut Kaulfuß nach Oppenau im Renchtal gebracht wurde, kam seine Frau Helga nach Ehingen an der Donau. Den Kontakt zueinander konnten sie derweil über das Telefon der Lagerleitung aufrechterhalten. So konnten sie vereinbaren, dass sie zusammen nach Böblingen entlassen werden wollten, wo Kaulfuß beruflich neu Fuß fasste. Zuerst im Straßenbau, danach im Stahl- und Betonhochbau, hiernach im Lager Sanitär der Firma Reisser, wo er allerdings auch nicht lange blieb, denn ohne Ausbildung sah er für sich keine Chance auf einen gefestigten beruflichen Boden unter den Füßen.
Damit war der Entschluss gefallen, sein nach vier Semester in Potsdam abgebrochenes Studium wiederaufzunehmen, worauf sechs Semester in Tübingen, zwei in England und zwei Semester am pädagogischen Institut in Stuttgart folgten, bis Helmut Kaulfuß die Befähigung zum Volksschullehrer erlangte.
Mit seiner ersten Stelle an der Albert-Schweitzer-Schule in Herrenberg 1963 streifte Helmut Kaulfuß den Status des Flüchtlings endgültig ab, wechselte später an die Jerg-Ratgeb-Realschule Herrenberg, in der er bis 1995 blieb und sich dann aufgrund eines Tinnitus frühzeitig in die Pension verabschieden musste. „Ich bin jeden Tag gerne in die Schule gegangen, aber ich konnte die Schüler nicht mehr verstehen“, bedauert er den frühzeitigen Abschied.
Der Sozialdemokrat Helmut Kaulfuß, dessen Ehrennadel zum 60-jährigen Parteijubiläum ihm im vergangenen Jahr überreicht wurde, kann auf eine stattliche Aufsteigergeschichte zurückschauen.
1997 musste Helmut Kaulfuß von seiner Ehefrau Helga Abschied nehmen, die einer Krebserkrankung erlag. 1953 waren beide zusammen im Berliner Olympiastadion, da entfachte in dem damals 19 Jahre alten Helmut die Leidenschaft für den VfB. Später besuchte das Paar jedes Heimspiel zusammen, und noch heute schnellen seine Arme zu jedem Tor der Stuttgarter in die Höhe. 1999 lernte Helmut Kaulfuß seine zweite Partnerin kennen. Das Paar heiratete zwar nie, verbrachte aber unvergessliche Momente zusammen.
Seit dem Tod seiner Partnerin im März 2024 lebt der rüstige Rentner alleine. Der größte Unterschied zum Verlust seiner Ehefrau ist für Kaulfuß sein Alter. Mittlerweile kann er keine großen Wanderungen mehr unternehmen, auch Bergsteigen lassen seine Kräfte nicht mehr zu. Das Interesse am großen politischen Geschehen hingegen besteht weiter, wovon viele aktuellen und zeithistorischen Bücher zeugen.
Mit zehn Gästen begeht der Jubilar heute seinen Ehrentag im „Römerhof“ in Gültstein.
(Artikel erschienen am 07.12.2024 im Gäubote Herrenberg. Wir danken der Redaktion des Gäubote für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Siehe auch www.gaeubote.de).