von Nebringen nach Tailfingen - es ist die Strecke, die vor genau 80 Jahren
die Häftlinge auf ihrem Weg zur KZ-Unterkunft gehen mussten.
Auf 2,5 Kilometern stehen die Menschen mit Plakaten, die den namenlosen Opfern ihre Identität zurückgeben sollen.
Hauptsächlich Schüler - Schickhardt-Gymnasium, Andreae-Gymnasium und Jerg-Ratgeb-Realschule aus Herrenberg, Gemeinschaftsschule Gäufelden und zwei Schulen aus Rottenburg beteiligen sich an der Menschenkette, die damit hauptsächlich aus Schülern besteht. Doch auch eine Handvoll anderer Bürger ist gekommen, die mitmachen wollen. Leicht zu koordinieren ist die Schlange nicht. Gute 2,5 Kilometer umfasst der Weg. „Wir haben die Strecke auf die Personenzahl umgerechnet", erklärt Benjamin Merkt, Vorsitzender des Vereins KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen. „Jeder hat etwa fünf Meter für sich, das müsste hinhauen." In der Praxis hapert es dann doch etwas. Die Lehrer versuchen teils, auf Fahrrädern ihre Schülerschlangen passend aufzustellen. Dennoch bleiben immer wieder Lücken. „Es macht einen Unterschied, ob man den Überblick über 30 Schüler haben muss oder über 160", stellt JRS-Lehrerin Meike Hirner fest. Dennoch, die Aktion erfüllt ihren Zweck. „Es macht uns froh, dass wir das Bewusstsein für ein so wichtiges Thema schärfen können und vor allem, dass unsere Schüler auch verstanden haben, wie wichtig das ist."
Kein Spaßausflug - Die strahlende Sonne sorgt für eine wunderschöne Aussicht über die Felder zwischen Nebringen und Tailfingen. Doch sie trügt. Ein beißend kalter Wind fegt über die Feldwege, der unter jede noch so gute Winterjacke und in jeden gefütterten Stiefel kriecht. Etwas dergleichen hatten die 601 Häftlinge, die 1944 vom Nebringer Bahnhof zu einem Hangar in Tailfingen marschieren mussten, nicht. Das war ihre Unterkunft nahe des Konzentrationslagers Hailfingen/Tailfingen. Für 189 von ihnen war das nach einem langen Leidensweg die letzte Station. „Es gibt keine Möglichkeit, ihr Leid ganz nachzuvollziehen", sagt Lehrerin Meike Hirner von der Jerg-Ratgeb-Realschule. „Aber bei dieser Kälte bekommen wir eher einen Eindruck davon, was sie damals erlebt haben." Denn da war es auch tiefster Winter. „Müssen wir hier jetzt noch zwei Stunden in der Kälte stehen?", hört man die Schüler stöhnen. Einige ziehen sich die Schals ins Gesicht und beginnen, zu hüpfen, um sich warmzuhalten. Draußen in den, Feldern reißt der Wind einigen Schülern ihre Plakate aus der Hand. „Das ist kein Spaßausflug", meint die Lehrerin.
Namen den Namenlosen - Heinrich Müller. Aladar Klohen. Moses König. Und viele, viele weitere. Es reiht sich Schild an Schild, Plakat an Plakat. Dahinter steht jeweils ein Schüler, der es hochhält. Erarbeitet haben die Jugendlichen diese selbst im Unterricht. Jedes Plakat enthält Informationen über einen ehemaligen Häftling. Seinen Namen, das Geburts- und Sterbedatum, ein paar Worte über seine Erlebnisse. Einige Schüler haben sogar Landkarten mit den vorherigen KZ-Stationen ihrer Häftlinge auf den Schildern. Andere ganze Lebensläufe. Nicht zu jedem der Betroffenen gibt es viele Informationen. „Für unsere Neuntklässler ist das hier der Einstieg ins Thema Nationalsozialismus. Wir besuchen auch noch die Gedenkstätte mit ihnen", sagt Patrik Lemmes, Lehrer an der Gemeinschaftsschule Gäufelden. Er ist mit 16 Schülern vor Ort, die mit großem Interesse an ihren Plakaten gearbeitet hätten. „Sie sind dabei zu unterschiedlichen Erkenntnissen gekommen. Eine Schülerin, die von ihrem Häftling nur den Namen und das Sterbedatum hatte, war überrascht, wie es zu einem Menschen so wenige Informationen geben kann. Wie das alles sein kann, was von jemandem übrig bleibt, der im KZ gestorben ist. Da waren einige Schüler fassungslos."
Wenn Geschichte sich wiederholt - „Ein paar Hundert Personen, das klingt eigentlich nicht nach viel", sagt JRS-Schülerin Nelli (14). „Aber durch unsere Aktion erkennt man, wie viele Menschen das tatsächlich waren. Die Schlange ist unglaublich lang." Und jedes dieser Opfer habe einen Namen und ein Schicksal gehabt. „Wir müssen daran erinnern, damit das nicht in Vergessenheit gerät", fügt Benjamin (14), ebenfalls Jerg-Ratgeb-Schüler hinzu. „Sonst könnte es sich in anderer Form wiederholen." Jonathan und Niklas (beide 14) machen sich da weniger Sorgen. „Noch ist die AfD zum Beispiel eine legale Partei", sagen sie. „Und die 'Menschen, vor allem hier in Deutschland, sind heute so sensibel bei diesem Thema, dass sie bestimmt verboten wird, bevor so etwas noch einmal passiert." Doch auch die Gegenwart sei wichtig, betont Mohammed (16) vom Schickhardt-Gymi, der selbst erst seit 2018 in Deutschland lebt. „Die Aktion ist wichtig und gut. Aber es wäre auch wichtig, mal eine Aktion zu den aktuellen Kriegen zu starten. Die Menschen in Israel und Palästina könnten noch gerettet werden."
Auch Nichtjugendliche - Die Zahl der Teilnehmer außerhalb der Schulen ist überschaubar, aber ein paar Gäufeldener sind doch dabei. Ruth Brucker aus Nebringen ist eine von ihnen. „Ich finde, es ist eine wertvolle Sache, dass an die Gräueltaten erinnert wird. Vor allem Jugendlichen sollte das Thema ins Bewusstsein gerufen werden. Die rechtsradikalen Tendenzen sind wieder sehr stark. Und zwar weltweit. Menschen leben auch heute im Krieg und erfahren Ungerechtigkeit." Dieses dunkle Kapitel in der Landesvergangenheit dürfe niemals verdrängt werden.
Die Resonanz ist da - "Das ist eine tolle Aktion. Junge Leute sollten darin bestärkt werden, sich für die Demokratie einzusetzen", finden Jutta Bauer und Sonja Hanstein, die vorbeigekommen sind, um sich die Aktion anzuschauen. Vor jedem Schild bleiben sie stehen, lesen, kommen mit den Schülern ins Gespräch. „Wir sind jetzt 70. Das war die Generation unserer Eltern", sagt Letztere mit Blick auf die Plakate. „Mein Vater war im Krieg und auch in Kriegsgefangenschaft", fügt Jutta Bauer hinzu. Und, dass 80 Jahre eigentlich noch gar nicht lange her seien. „Aber nicht nur deswegen sollte man an das Thema erinnern. Wir sind hier wegen dem, was heute passiert. Die rechten Kräfte werden immer stärker."
Nicht die Augen verschließen - Finn (15) vom Schickhardt-Gymnasium erzählt von seinem Häftling, der mit gerade einmal 17 Jahren ins KZ kam. „Es ist echt kalt", sagt er schlotternd. „Aber an sich finde ich die Aktion gut. Es ist wichtig, auf das Thema aufmerksam zu machen. Auch in Bezug auf den Krieg in Nahost." Er und seine Klassenkameraden seien mit dem Zug nach Nebringen gefahren. „Der Schaffner hat gesagt, wir sollen die Symbole auf den Plakaten nicht so offen zeigen. Manche Leute sehen das nicht gerne und es habe im Zug deswegen schon einmal Ärger unter den Fahrgästen gegeben." Das, so der junge, zeige einerseits, dass der Respekt vor den Taten der Nazis noch da sei, andererseits aber auch, dass viele Menschen lieber die Augen verschließen. „Das ist aber ein Thema, das nicht versteckt werden sollte."
Kundgebung in Tailfingen - "Wenn man die Überlebenden fragt, was das Schlimmste im Lager war, hört man überraschenderweise oft nicht 'der Hunger' oder 'die Kälte'", so Gedenkstätten-Vereinsmitglied Harald Roth. „Sondern, dass man am Tor seinen Namen, seine Identität abgegeben musste. Die Menschen waren nur noch Nummern. Aber Ihr habt ihnen ihre Namen und damit ihre Würde zurückgegeben", lobt er die Schüler am Ende der Aktion. Bundestagsabgeordneter Peter Seimer fügt hinzu: „Angefangen hat die NS-Zeit mit dem Wort 'anders'." Damals seien es die Juden gewesen., „Aber auch heute wird Hass und Hetze gegen Minderheiten gestreut." Umso wichtiger sei es, nicht aufzuhören, für die Demokratie einzustehen.
(Artikel erschienen am 21.11.2024 im Gäubote Herrenberg. Wir danken der Redaktion des Gäubote für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Siehe auch www.gaeubote.de).