
In der Schulküche bereitet die Bläserklasse zusammen mit ihren Besuchern aus Kenia, Kinderhausleiterin Eunice Okore (Dritte von links)
mit ihrer Tochter Anthea Anjango (zweite von links), afrikanische Snacks zu. GB-Foto: Vecsey
Wie viele Menschen in normalen Berufen ärgern sich hierzulande über die mangelnde Freizeit und die langen Arbeitstage? Auch ein schönes Wort, das gern mit dem heutigen Zeitgeist in Verbindung gebracht wird: Work-Life-Balance. In Kenia scheint das jedenfalls kein Thema zu sein, wenn man die Worte von Eunice Okore und ihrer Tochter Anthea Anjango hört. Okore und ihr Mann leiten das Kinderheim „Nazareth" in Rangwe. Es ist eine Initiative von kenianischen Pastoren und es bietet 30 Kindern ein Zuhause. Unterstützt wird das Heim durch den Verein „Nazareth Kinderheim Kenia" mit Sitz in Niedernhausen. Vereinsmitglied Markus Walker engagiert sich dort seit 15 Jahren. Als die Jerg-Ratgeb-Schule an Weihnachten mit Konzerten der Bläserklasse auf verschiedenen Weihnachtsmärkten Spenden gesammelt hat, regte er an, einen Teil davon doch in das Kinderheim zu investieren. Okore und Anjango sind nun zu Gast an der Schule, um den Schülern zu zeigen, wo ihr gesammeltes Geld ankam, und ihnen vom Leben in Kenia zu erzählen.
Die Elf- und Zwölfjährigen der Bläserklasse können für ihr Alter gut Englisch, Walker muss kaum etwas übersetzen. Und sie haben viele Fragen mitgebracht. Ob die Kinder in Kenia auch Fußball spielen? „Ja, sogar sehr gerne", antwortet Anthea Anjango. Doch weil es kaum Spielzeug gebe, basteln die Kids es selbst, einschließlich der Fußbälle, die aus alten Plastikverpackungen geknüllt werden. Das darf die Bläserklasse an diesem Tag auch noch ausprobieren. Ob die Kinder kein Smartphone oder Playstations zu Hause haben, will ein Schüler wissen. „Smartphones sind langsam am Aufkommen", sagt Anjango, „aber das haben noch nicht viele. Und eine eigene Playstation ist auch nicht erschwinglich. Das haben nur die ganz Reichen."
Zu den Reichen gehören die Bewohner und Leiter des Heims nicht. Aber zum Glück auch nicht zu den Armen. Den wirklich armen Familien haben die Heimkinder aber schon Besuche abgestattet, ihnen Lebensmittelpakete — die auch über Vereinsspendengelder finanziert wurden — gebracht und mit ihnen gekocht. Eunice Okore zeigt Projektorbilder von einer einfachen Lehmhütte mitten im Nirgendwo. Die Toilette ist ein winziger Bretterverschlag ohne Tür. Und in der Hütte ist so wenig Platz, dass die Feuerstelle genau an das Bett angrenzt, in dem acht Kinder schlafen. Hier bekommen die Schützlinge des Heims „Nazareth" ein Gespür dafür, dass es ihnen vergleichsweise noch recht gut geht.
Weiteres Spendengeld ist in den Brunnen im Ort geflossen. Zuvor mussten die Kinder aus Rangwe fünf Kilometer zur Wasserstelle laufen, um 40 bis 80 Liter Wasser in Kanistern mit Schubkarren oder Eseln zum Dorf zu bringen. Ein ebenfalls größeres Vereinsprojekt war der Bau einer Grundschule für 350 Kinder. Hinzu kommen soll bald auch eine weiterführende Schule. „Das Gebäude kostet 120 000 Euro", verrät Walker. „Den Großteil haben wir zusammen." Das Bildungssystem sei gerade im Umbruch, werde ausgefeilter. Bisher werden in Rangwe alle vom Kindergartenalter bis zur 6. Klasse im gleichen Schulhaus betreut und unterrichtet. Es werden Schuluniformen getragen. Außer am Dienstag und Donnerstag, da kommen die Kinder im Trainingsanzug, weil sie Sportunterricht haben. Zum gepflegten Äußeren gehört dort auch, dass sich sämtliche Schüler alle zwei Wochen die Haare scheren und ihre Nägel sehr kurz tragen. Auf Pünktlichkeit wird großen Wert gelegt.
"Wir sollten uns bewusst machen, wie gut es uns geht. — Und die anderen nicht vergessen" Markus Walker
Auf einem Foto ist ein typisches Klassenzimmer zu sehen. Die Stühle sind ungewöhnlich. Jedem Schüler wird ein eigener — mit integriertem Schreibtisch und einem Fach, in dem die Arbeitsmaterialien verstaut werden — zugewiesen. Auf den müssen sie aufpassen. „Dadurch lernen sie Verantwortungsbewusstsein", so die Tochter der Heimleiterin.
Die Powerpoint-Präsentation, die Eunice Okore und Anthea Anjango mitgebracht haben, zeigt das Heim, umgeben von einer grünen Landschaft, Papaya- und Mangobäumen. „Die Schlafräume für die Jungen und Mädchen sind getrennt", erklärt Anjango. Ein Bild zeigt ein Zimmer mit vier Stockbetten darin. Es erinnert an ein Landschulheim. Ungewöhnlich sind die Mückennetze, die von der Decke hängen und nachts über die Betten heruntergelassen werden. „Die sind sehr wichtig, um unsere Kinder vor Malaria zu schützen", sagt Eunice Okore.
Ein Gebäude nebenan ist so etwas wie die Cafeteria und Kapelle in einem. Hier wird gegessen und täglich gebetet. Auch die Waschräume sind aus dem Hauptgebäude ausgelagert. In der Mitte gibt es eine Wiese, die als Fußball-Spielfeld genutzt wird. Ein paar Kühe laufen dort auch herum. Um die wird einfach herumgespielt.
Die Schüler wollen wissen, was Kinder in Kenia außer Schulbesuchen und Fußballspielen noch so machen. Es werde auch gerne getanzt, antwortet Anjango. Aber all zu viel Freizeit für Spaßaktivitäten gebe es nicht. „Für die Erwachsenen sowieso nicht, weil es immer viel Arbeit gibt", erklärt sie. Verabredungen seien eine Seltenheit. „Aber auch die Kinder haben viel zu tun. Sie müssen Feuerholz sammeln, am Brunnen Wasser holen, die Kühe hüten, auf dem Markt einkaufen gehen und auch im Haushalt und beim Kochen helfen." Alles, was hierzulande in der Regel in wenigen Handgriffen erledigt ist, braucht in Kenia viel Zeit, weil die Hilfsmittel fehlen. Vom Waschen bis zum Kochen. Wenn es im Heim Pizza gibt, muss der Teig zuerst selbst gemacht und von Hand ausgerollt werden. Der Ofen funktioniert nicht mit Strom, sondern mit Feuer, für das zuerst Holz gehackt werden muss. Die meisten Strecken, die es zurückzulegen gibt, werden zu Fuß bewältigt. Wenn es auch Fahrzeuge gibt. Der Beamer zeigt ein Bild von einem Kleinbus ohne Sitze, der gesteckt voll ist. „Was denkt ihr, wie viele Schüler da drin sitzen?", fragt Walker in die Runde. Die Sechstklässler, die auf 20 tippen, liegen richtig. „Autofahren ist teuer in Kenia. Und wenn man es macht, dann muss es sich lohnen." Ein Grund, warum er sich für den Verein engagiert: „Wir sollten uns bewusst machen, wie gut es uns geht", sagt Markus Walker. „Und die anderen nicht vergessen."
(Artikel erschienen am 12.07.2025 im Gäubote Herrenberg. Wir danken der Redaktion des Gäubote für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Siehe auch www.gaeubote.de).