2024-04 Im Gespräch mit Winfried Kretschmann

Große Pause mit Winfried Kretschmann
 
Herrenberg: Für zwei Zehntklässler der Jerg-Ratgeb-Realschule sieht der Donnerstagvormittag anders aus als für ihre Klassenkameraden. Miriam Bleiholder und Jalon Lang treffen den Ministerpräsidenten.
 
von Katja Fuchs Gäubote Herrenberg, 13.04.2024
 
betreuende Lehrer: Alexander Riegler, Dominik Kirgis

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (zweiter von rechts) spricht mit den Schülern Jalon Lang (rechts)
und Miriam Bleiholder sowie ihrem Lehrer Dominik Kirgis über das Thema Antisemitismus. GB-Foto: Holom

Wie viele Schüler bekommen wohl die Chance, einmal dem Ministerpräsidenten gegenübertreten zu können? Für die Zehntklässler Miriam Bleiholder und Jalon Lang der Jerg-Ratgeb-Realschule wurde genau das Realität. Unter dem Dach des „Gäubote" sprachen sie, zusammen mit ihrem Lehrer Dominik Kirgis, mit Winfried Kretschmann über Antisemitismus - ein Thema, das ihnen in den vergangenen Monaten zur Herzensangelegenheit geworden ist.

„Angefangen hat alles schon letztes Jahr, als unser Lehrer durch die Klassen gegangen ist und gefragt hat, wer Lust hat, an einem Projekt teilzunehmen", erzählt der 16-jährige Jalon Lang, während Kretschmann aufmerksam zuhört. Es fanden sich genügend Schüler, die bereit waren, sich mit den Porträts, die ein Künstler von Holocaust-Überlebenden aufgenommen hatte,  auseinanderzusetzen, um andere durch die Ausstellung führen zu können (der „Gäubote" berichtete). „Gleich äm Anfang kam es dann zu einem unschönen Augenblick'', erinnert sich der Schüler. Berichtet dem Ministerpräsidenten davon, wie die Porträts mit NS-Symbolen beschmiert wurden. „Das hat Herrenberg umgetrieben. Aber wir hatten dadurch auch ziemlich großen Andrang von Gruppen und Politikern, die die Ausstellung sehen wollten. Der Vorfall hat das Projekt in der Öffentlichkeit präsenter gemacht."

Das, so Dominik Kirgis, habe der Schulgemeinschaft deutlich gemacht, dass ein Leben in Freiheit, Vielfalt und Demokratie kein Selbstläufer sei. „Aber das ist es immer wert, dafür zu kämpfen." Das haben die Schüler getan, die die Ausstellung von Luigi Toscano weiter der Öffentlichkeit zugänglich machten, anstatt das Projekt aufzugeben. Miriam Bleiholder und Jalon Lang trugen das Thema nun stellvertretend für alle Schüler, die daran beteiligt waren, in die Landespolitik hinein.

„Wie ist die Schulgemeinschaft mit dem Projekt und auch dem Vorfall umgegangen?", wollte Winfried Kretschmann wissen. „Es sind ganz neue Verbindungen über die Klassenstufen hinweg entstanden", erzählten die Schüler. „Es wird teilweise jetzt noch auf dem Pausenhof darüber geredet und das Thema wurde auch in die Familien mitgenommen", hat Jalon Lang gehört. „Das war der Sinn des Projekts. Das Thema in die Breite der Gesellschaft zu bringen." Was man immer wieder in Geschichtsbüchern lese, findet er, verliere an Bedeutung. „Aber die Porträts waren eindrücklich. Da wurde einem erst richtig bewusst, dass das normale Menschen waren, denen irgendetwas unterstellt wurde und deswegen fanden sie sich in KZs wieder." Man könne nicht einfach an diesen Bildern vorbeigehen. „Die Bilder sind gut gemacht", fügte Miriam Bleiholder hinzu. „Es fesselt einfach, wenn man die Gesichter sieht."

"Sie haben die Ehre verdient" Winfried Kretschmann

Jalon Lang fragte den Ministerpräsidenten, ob sich die Gedenkkultur geändert habe. „Die wird schwieriger, weil die Zeitzeugen verschwinden'', antwortete er. „Das Thema rückt zeitlich immer weiter weg. Man sollte es nicht glauben, aber auch die Gedenkstätte im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz und andere Gedenkstätten sind hochgradig unterfinanziert." Es gebe die Überlegung, KZ-Besuche für Schulen verpflichtend zu machen. „Aber ob das die richtige Wirkung erzielt, ist die andere Frage." Die Stelle des Antisemitismusbeauftragten sei gestärkt worden, damit dieser auch vermehrt Schulen besuchen könne. „Es ist wichtig, dass junge Menschen das Wachhalten der Erinnerung zu ihrer Aufgabe machen. Sie haben die Ehre verdient", betont Kretschmann gegenüber der Schulabordnung. Die Schüler erhalten für ihr Engagement dieser Tage mehrere Preise von verschiedenen Vereinen und Verbänden (der „Gäubote" berichtete). „Ich bin sehr beeindruckt von dem Engagement der Schülergruppe und vor allem, dass sie den Mut hatte, nach dem verabscheuungswürdigen Vorfall die Ausstellung nicht abzubrechen, sondern gesagt hat 'Jetzt erst recht!'", so der Politiker. „Es tut gut, zu sehen, dass sich junge Menschen starkmachen gegen Antisemitismus und für die Demokratie."

Die Wertschätzung, die er aus den Worten des Ministerpräsidenten rausgehört habe, bedeute ihm viel, sagte Dominik Kirgis im Nachgang. „Das ist eine große Bestätigung in dem, was wir tun."

„Seine Offenheit war sehr cool", fügte Jalon Lang hinzu. „Herr Kretschmann wirkt wirklich authentisch. Man hat gemerkt, dass er sich schon zuvor mit Antisemitismus stark beschäftigt hat. Er hat selbst gesagt, das Thema müsste in der Gesellschaft stärker verankert werden. Wir hoffen, dass er diese Einstellung auch in die Landespolitik mitnimmt." Der 16-Jährige rezitierte einen spanischen Philosophen mit den Worten: „Wer die Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie neu zu durchleben." Für ihn und die anderen Schüler sei es eine Bereicherung gewesen, an dem Projekt beteiligt zu sein, das Ausmaße annahm, die sich anfangs niemand hätte träumen lassen. „Wir haben während des Projekts gemerkt, dass es wichtig ist, Bezugspunkte zu schaffen. Zum Beispiel, indem man den Leuten klar macht, dass es auch sie selbst oder ihr eigener Bruder hätte sein können, der auf einmal weg ist. Viele der damaligen Opfer haben nichts gemacht, außer, dass sie Juden waren. Das waren normale Menschen wie wir." Die Schüler wollen auch andere in ihrem Alter motivieren, sich mit der Geschichte zu beschäftigen.

„Wir sind gerade am überlegen, wie wir das Thema auch über das Schuljahr hinaus warmhalten können", verrät Lehrer Dominik Kirgis. Den Kontakt zur KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen wolle die Schule jedenfälls aufrecht erhalten. „Die haben wir genau vor der Haustür." Da zeige sich eindrücklich, dass das Thema nicht so weit weg sei, wie es nun nach fast 100 Jahren den Anschein habe. „Es geht immer um Menschen und um die Menschlichkeit, die der Gesellschaft damals offensichtlich gefehlt hat. Damit das in anderer Form nicht wieder passiert, müssen wir daran erinnern, wozu Menschen fähig sind."

(Artikel erschienen am 13.04.2024 im Gäubote Herrenberg. Wir danken der Redaktion des Gäubote für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Siehe auch www.gaeubote.de).

 

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