2024-04 Gegen das Vergessen

Gleich drei große Preise in kürzester Zeit
 
Herrenberg: Nach einem schockierenden Vorfall im vergangenen Jahr machten sich die Schüler der Jerg-Ratgeb-Realschule verstärkt gegen Antisemitismus stark. Nun wird ihr Engagement gewürdigt.
 
von Katja Fuchs Gäubote Herrenberg, 08.04.2024
 
betreuende Lehrer: Alexander Riegler, Dominik Kirgis

Nachdem die Bilder verunstaltet wurden, kam nicht nur Antisemitismusbeauftragter Michael Blume (rechts) nach Herrenberg,
auch der Fotograf Luigi Toscano (Mitte) besuchte die Schule. Es stand auf der Kippe, ob die Ausstellung abgebrochen wird.
Doch die Schüler ließen das nicht zu, ganz nach dem Motto: Gegen Vergessen - jetzt erst recht.
GB-Foto: Vecsey 

Die Schüler der Jerg-Ratgeb-Realschule erhalten den Israel-Arbeiter-Preis für ihre Verdienste im Kampf gegen Antisemitismus.
Israel Arbeiter war einer der KZ-Überlebenden aus Hailfingen/ Tailfingen, der die Gedenkstätte zu Lebzeiten selbst besucht und die Arbeit des
Gedenkstätten-Vereins unterstützt hat. Im Rahmen der Preisverleihung pflanzen die Schüler einen Apfelbaum beim Mahnmal in Gedenken an ihn.
GB-Foto: gb

Was vergangenen September als normales Schulprojekt begann, wuchs sich durch ein verhängnisvolles Ereignis zu einem Politikum aus, das ungeahnte Kreise zog. Davon dürften die Schüler der Jerg-Ratgeb-Schule in Herrenberg noch lange reden. Sie sind über sich hinausgewachsen, waren plötzlich in der Situation, im Zentrum des öffentlichen Interesses zu stehen. Dass sie ihr Projekt dennoch durchgezogen und sich in großem Maße engagiert haben, bringt ihnen nun Zeichen der Anerkennung ein: gleich drei bedeutsame Auszeichnungen wurden und werden ihnen verliehen.

„An dem Morgen habe ich mein Fahrrad bei der Schule abgestellt, bin nichtsahnend die Treppe hochgegangen und da habe ich die Hakenkreuze auf den Bildern gesehen", erinnert sich Lehrer Dominik Kirgis. Wenig zuvor hatte er, zusammen mit seiner Kollegin Meike Hirner, die Idee gehabt, die Fotoausstellung „Gegen das Vergessen" von Luigi Toscano an die Schule zu holen. Eine Fortbildung zum Thema Antisemitismus hatte die beiden nach Frankreich zum KZ Natzweiler geführt. Die Eindrücke hallten nach, die Lehrer beschäftigten sich anschließend weiter mit dem Thema und stießen auf die Wanderausstellung, die schon in Boston und New York zu Gast war. „Ich hatte davon schon gehört. Der Künstler erzählt die Geschichten der Holocaust-Überlebenden über großformatige Porträts sehr eindrücklich", so Kirgis. Und bei genauerer Recherche fiel ihm auf, dass er zwei der Abgebildeten sogar persönlich kannte, unter anderem aus seiner Studienzeit in Ludwigsburg. Es folgte die Bewerbung und prompt die Bestätigung, dass die Ausstellung an die Jerg-Ratgeb-Schule kommen darf. Eine Projektgruppe von Schülern recherchierte die Biografien der Dargestellten, mit der Idee, Klassen anderer Schulen durch die Ausstellung zu führen. Nach der Eröffnung hielt die Freude kaum einen Tag an. Dann wurden vier der Porträts mit NS-Symbolen beschmiert (der „Gäubote" berichtete).

"Wir haben historische Arbeit an der Basis geleistet und das haben wir mit Schülern geschafft" Dominik Kirgis

„Ich hätte niemals gedacht, dass das passiert", sagt Kirgis, noch immer geschockt. „Und das hat etwas in Gang gebracht. Auf einmal stand der Künstler da, am nächsten Tag kam der Landes-Antisemitismusbeauftrage. Das war plötzlich so groß." Er wolle nicht sagen, dass es gut war, dass die Kunstwerke beschmiert wurden, aber „der Effekt, den es hatte, war gut: Wir hatten öffentliches Interesse und haben das maximal ausgenutzt", freut er sich. Rund 30 Gruppen hätten die Schüler anschließend noch durch die Ausstellung geführt, darunter viele Politiker, und das mit einem in kürzester Zeit angeeigneten Expertentum und großem Bewusstsein für Bedeutung dessen, was sie tun. Das machte Dominik Kirgis und Schulleiter Alexander Riegler regelrecht sprachlos. „Wir haben historische Arbeit an der Basis geleistet und das haben wir mit Schülern geschafft", betont Kirgis und bezeichnet diesen Erfolg als Highlight seiner bisherigen Dienstzeit.

Nun folgt die Bestätigung. Im Oktober bekamen die Schüler der Klassenstufe 10 vom Kulturkreis Herrenberg den Dr.-Martin-Zeller-Preis des Kreises überreicht (der „Gäubote" berichtete). Elisabeth Kaiser, Vorsitzende des Kulturkreises, und ihr  Stellvertreter, Günther Ansel, kamen in den Musiksaal der Schule, um dem Projektteam einen Scheck zu überreichen. „Das war eine schöne Begegnung mit der Vorsitzenden, die sehr wertschätzend mit Schülern gesprochen hat und sich gefreut hat, dass die Gruppe sich um das Geschichtsbewusstsein bemüht", sagt Schulleiter Riegler nun im Nachhinein. „Mit so viel Anerkennung haben wir nicht gerechnet."

Damit nicht genug. Am kommenden Donnerstag, 11. April, plant der Verein KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen die Verleihung des Israel-Arbeiter Preises an die Schüler. „Am 11. April um 17 Uhr pflanzen die Schüler am Mahnmal einen Apfelbaum für den 2021 verstorbenen Überlebenden des KZ-Außenlagers Hailfingen/Tailfingen, Israel Arbeiter", teilt Vereinsvorsitzender Benjamin Merkt mit. Den Israel-Arbeiter-Preis vergebe der Verein dieses Jahr zum ersten Mal. Neben weiteren Holocaust-Überlebenden war in der Ausstellung von Luigi Toscano auch Israel Arbeiter als großformatiges Porträt zu sehen. „Israel Arbeiter ist der zweite Zeitzeuge, dem wir mit einem Baum ein lebendiges Zeichen unserer Verbundenheit setzen", erklärt Merkt. „Er kam fünfmal aus Boston, USA, zu uns zu Besuch nach Hailfingen/Tailfingen, um unsere Arbeit gegen das Vergessen zu unterstützen."

Aller guter Dinge sind drei. Im Juni steht für die Schüler und ihre Lehrer ein weiteres Highlight im Terminkalender. Da geht es nach Ludwigsburg, wo sie den Rahel-Straus-Jugendpreis entgegennehmen dürfen. Den verleiht seit 2019 die Landesarbeitsgemeinschaft Baden-Württemberg innerhalb des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie". Das damit verbundene Preisgeld über jeweils 1 000 Euro stiftet die Berthold-Leibinger-Stiftung. Neben einer Freiburger Schule wurde in diesem Jahr auch die Jerg-Ratgeb-Schule für den Jugendpreis ausgewählt. Den gibt es für Verdienste rund um die Erinnerungskultur. Nach Rahel Straus, einer fortschrittlichen Jüdin, die als eine der ersten Medizinstudentinnen Deutschlands und Engagierte in der Frauenrechtsbewegung des frühen 20. Jahrhunderts in die Geschichte einging, ist der Preis benannt. „Wir haben damals bewusst kein Holocaust-Opfer genommen", erklärt Vereinssprecherin Birgit Kipfer, „wir wählten eine vorbildliche Frau, die ein interessantes Leben hatte." Als eines der beiden besten Projekte wurde das der Jerg-Ratgeb-Schule ausgesucht, weil es beinahe zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, sich die Schüler aber dann entschlossen haben, mit noch größerer Einsatzbereitschaft und Motivation da erst recht gegen Antisemitismus einzutreten. „Wir haben mit der Preisverleihung auch eine Erwartung, dass die Empfänger weitermachen", erklärt Kipfer. Da dürfte sie bei der Jerg-Ratgeb-Schule nicht enttäuscht werden. Das Thema Antisemitismus steht dort nun stärker im Fokus denn je. Gleich vier Schüler lassen sich zu Jugendguides der KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen ausbilden, und es gab im Nachgang zu dem Thema Workshops und Aktionen in allen Klassenstufen.

(Artikel erschienen am 08.04.2024 im Gäubote Herrenberg. Wir danken der Redaktion des Gäubote für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Siehe auch www.gaeubote.de).

 

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