Zuweilen riecht er den Geruch von Zimt gut gewürztem Essen, hört den Ruf des Muezzins das Bellen eines Hundes, erinnert sich an den Geschmack, den Klang seiner Kinderjahre. Naceur Charles Aceval ist der Spross eines Basken und der stolzen Tochter des Oberhauptes eines Nomadenstammes. Im Maghreb großgeworden, schreibt der aus Algerien stammende Wahldeutsche die Tradition des Märchenerzählens fort. So auch in der Mediothek der Jerg-Ratgeb-Realschule.
Der Kampf entbrennt
Geschichten sind wie eine Zeitmaschine. Naceur Charles Aceval nimmt seine jungen Zuhörer mit in das Nomadenzelt seiner Kindheitstage. Angst und Hunger treiben den Jungen und seine Geschwister um, die Mutter kocht eine Suppe, viel hat sie nicht, eine Prise Salz, eine Zwiebel, eine Handvoll Grieß Wasser. Inmitten der ärmlich anmutenden Verhältnisse ist der Kampf zwischen Franzosen und Mudschaheddin voll entbrannt, es ist die Zeit des Algerienkrieges, am Tag durchsuchen die Franzosen die Zelte, nachts kommen die Mudschaheddin. „Wir hatten ständig Angst und Hunger", sagt der Mann, der drei Sprachen fließend beherrscht.
Am Abend, von dem der heute 66-Jährige erzählt, fällt ausgerechnet eine Kakerlake in die karge Mahlzeit hinein, die Mutter schüttet die Suppe weg, ihren Kindern, die der Hunger quält, erzählt sie von der Kamelstute, deren pralle Euter mit Milch gefüllt sind, die auf ihrem Rücken honigsüße Datteln mit sich trägt, diese Nacht wird sie kommen was für ein Glück. Das Licht im Zelt erlischt, eingehüllt in den großen Teppich lauschen die Knirpse der Stimme der Mutter, die Märchen zu erzählen beginnt, den Kleinen das Warten auf die sagenumwobene Kamelstute versüßt. Derweil ihre Sprösslinge eingeschlafen sind „hat meine Mutter eine Nacht gewonnen und uns doch ernährt, mit ihren Märchen und Geschichten".
Geschichten, Märchen, Legenden, Fabeln, die eine Generation gibt sie an die Nachfolgende weiter. So war es immer, so mag es noch sein dort unter den Nomadenzelten in der Steinwüste am Rande der Sahara, der algerischen Hochebene von Tiaret. Wo die Frauen den Schlüssel zu den mit Honig, Kaffee, Zucker oder mit vielen weiteren Schätzen gefüllten Truhen in ihren Händen haben die Männer nichts in Angriff nehmen ohne zuvor ihre Frauen gefragt zu haben. „Wenn die Frauen nicht frei sind, sind die Menschen nicht frei", gibt der in Tübingen beheimatete Märchenerzähler seinem gebannt lauschenden Publikum mit auf den Weg.
Nicht nur seine Mutter, auch seine Großmutter kannte viele Märchen der Onkel erzählte dem Jungen Märchen voller Weisheit. Heute ruhen diese Mitglieder seiner Familie auf dem Nomadenfriedhof, der keine Namen, Grabinschriften kennt. Der junge Aceval gehört zu den ersten Kindern des Nomadenstammes, die zur Schule gehen, schreiben und lesen lernen, der Vater, ein Straßenbauer aus dem Baskenland, stirbt früh, sein Sohn ist gerade einmal acht Jahre alt. Als junger Mann schlägt er sich nach Marseille durch, ist beeindruckt von der Größe der Stadt am Mittelmeer. Ampeln, Zahnbürsten, Messer und Gabeln, all das ist für den Nomadensohn eine völlig neue Welt. „Ich wurde fast überfahren, ich kannte ja keine Ampeln, ich musste lernen, dass Messer und Gabel Geräte sind, mit denen man isst" erinnert sich der Märchenerzähler.
Mit Märchen Brücken bauen
Es zieht ihn schließlich weiter, der Bruder lebt in Reutlingen, mittlerweile lebt Aceval 30 Jahre in Deutschland, bereist mit seinen Geschichten und Märchen die ganze Welt bis hin nach Palästina. „Zweimal war ich zu einem Festival vom Europaparlament in Straßburg eingeladen, erzählte auf Deutsch und Französisch", sagt der Mann, der mit seinen Märchen und Erzählungen Brücken zwischen den Kulturen den Religionen baut. „Für mich gibt es nur einen Gott, einen Gott für alle, das ist die Liebe" betont der Nachfahre des Stammes der Ouled Sidi Khaled. Aceval hat eine Bendir, die für den Maghreb so tyfische Rahmentrommel, und den alten Strohhut seines Großvaters, ein Geschenk der Tante mitgebracht. Natürlich hat er auch die jahrhunderte-, jahrtausendealten Geschichten seiner Vorfahren parat. Etwa sein Lieblingsmärchen von der Tochter des Löwen, das ihm die Großmutter beibrachte. Eine zu Herzen gehende Erzählung über die zarten Bande gegenseitiger Zuwendung, Fürsorge und Vertrautheit, das zweischneidige Schwert der Sprache, mit deren Worte man dem Gegenüber tiefe Wunden schlagen kann. Alle Verletzungen heilen eines Tages, nur Verletzungen, die einem mit Worten zugefügt wurden, heilen nie, wird der zutiefst gekränkte, traurige alte Löwe seine menschliche Adoptivtochter wissen lassen. Die sagenhafte Geschichte' vom kleinen Nomadenmädchen „Immergrün" handelt von Neid, Zwietracht, Liebe, Gewalt und Tod, Verrat und Verlust, üppigen und mageren Zeiten, davon, dass „wenn jemand in die Vergangenheit zurückschaut, er ein Auge verliert, wer gar nicht zurückschaut jedoch beide Augen verlieren kann". Es sind Märchen voller Weisheit, sie sind klug und gewitzt, mitunter traurig und tragisch. Es sind Märchen aus einer "Traumzeit" als die Tiere noch sprechen konnten, bevor sie für immer verstummten. „Aber das ist eine andere Geschichte."
(Artikel erschienen am 25.03.2017 im Gäubote Herrenberg. Wir danken der Redaktion des Gäubote für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Siehe auch www.gaeubote.de).